Flexible Alleskönner

Schnee, Eis, Regen, klirrende Kälte oder große Hitze: Ganzjahresreifen versprechen den sicheren Grip bei jedem Wetter. Doch funktioniert das tatsächlich? Der ADAC hat die neuesten Entwicklungen von neun Herstellern getestet.

Von heiß bis Eis

Gut, dass der Winter vorbei ist. Endlich wieder im Straßencafé oder Biergarten sitzen und die Sonne genießen! Die dicken Winterklamotten werden im Keller verpackt. Ganz oben in der Schublade liegen nun die T-Shirts, im Schrank hängen griffbereit leichte Jacken und Hosen. Oder kämen Sie etwa auf die Idee, das ganze Jahr dieselbe Kleidung zu tragen? Solche Stoffe gibt es gar nicht, mit denen man bei Minusgraden mollig warm eingepackt wäre und gleichzeitig am Strand nicht ins Schwitzen käme

Zaubermaterialien sind auch im Reifenbau Mangelware – und daran hat sich prinzipiell bis heute nichts geändert. Sommerreifen bringen mit wenig Profil möglichst viel Gummi auf die Straße und sind mit ihrer Mischung bei hohen Temperaturen stabil. Winterreifen dagegen verzahnen sich mit ihren fein lamellierten Profilblöcken mit rutschigem Untergrund und bleiben selbst bei Minusgraden haftgeschmeidig.

Trotzdem gab es, inspiriert vom amerikanischen Markt, auch bei uns schon seit Längerem Ganzjahresreifen, die versprachen, mit nur einer Mischung und einem Profil – sozusagen in der gleichen Jacke und Hose – durch die vier Jahreszeiten zu kommen. Allerdings wurden diese Reifen anfangs von der Industrie recht stiefmütterlich behandelt. Zuerst waren es Sommerreifen, in die etwas mehr Profil geschnitzt und auf deren Flanke das amerikanische M+S-Symbol gestempelt wurde, damit sie wenigstens offiziell Winterreifen waren. Das Ergebnis: auf Schnee undEis unfahrbar. Weil mit diesen Pneus keine Tests zu gewinnen waren, schwenkten die Hersteller um und machten Winterreifen „sommertauglich“ – prompt waren die Resultate auf trockener Fahrbahn nicht mehr akzeptabel.

Der ADAC hat diese Ganzjahresreifen 2014 und 2016 für die untere Mittelklasse getestet. Das Ergebnis machte wenig Mut: 2014 zweimal knapp ausreichend, zweimal mangelhaft, 2016 zweimal noch knapp zufriedenstellend, dreimal ausreichend und zweimal mangelhaft. Für die Mehrheit der deutschen Autofahrer blieb deshalb die O-bis-O-Regel weiter gültig: An Ostern kommen die Sommerreifen drauf, im Oktober die Winterschlappen

Doch die Einführung der Winterreifenpflicht (bei Schnee und Eis darf nur mit Winterreifen gefahren werden) und der obligatorischen Reifendruckkontrolle mit den zusätzlichen Drucksensoren im Pneu brachte den Markt in Bewegung. Denn wenn in der kalten Jahreszeit ohnehin nur mit Winterreifen gefahren werden darf: Wäre es nicht einfacher und billiger, damit das ganze Jahr zu fahren – ohne Wechsel- und Lagerungskosten, ohne ein zweites Sensorpaket? Und die Betreiber von Flotten oder Autovermieter wollten ihren Fuhrparkbetrieb mit dem Wegfall der Wechsel- und Zusatzkosten ohnehin schon immer wirtschaftlich optimieren.

Nachfrage erzeugt Angebot. War der Markt für Ganzjahresreifen – mit Ausnahme von Goodyear – bisher eher eine Spielwiese für kleine Anbieter oder unbedeutende Drittmarken der Konzerne, brachten sich nun die großen Premiummarken in Position: Hankook, Pirelli, Vredestein, Nokian – und jetzt die Big Player Michelin und Continental.

Die Franzosen starteten ihre Marktoffensive Anfang 2015 mit dem CrossClimate, dem „ersten Sommerreifen mit Wintereigenschaften“. Und als Continental Mitte 2017 mit dem AllSeasonContact nachzog, war das mehr als nur ein Symbol der Trendwende: Der Marktführer zählte jahrelang zu den Verfechtern von Sommer- und Winterspezialisten, lehnte Ganzjahresreifen sogar als „Sicherheitsrisiko“ komplett ab.

 

Sommerreifen bremsen auf trockener Fahrbahn am besten

Viel Gummi bringt beim Trockenbremsen viel: Bei warmen Temperaturen hat der Sommerreifen die Nase vorn. Die Unterschiede zwischen bestem und schlechtestem (lamelliertem) Ganzjahresreifen sind mit 3,7 Metern aber nicht allzu groß.

Auf Nässe beeinflusst die Temperatur den Bremsweg

Fast elf Meter Bremsweg – hier fände eine Kindergartengruppe Platz! – liegen zwischen dem besten und dem schlechtesten Ganzjahresreifen. Werden die Spezialisten in der falschen Saison gefahren, verlängert sich der Bremsweg um ca. fünf Meter.

Auf Schnee stoppt kein Reifen früher als der Winterspezialist

Keine Chancen auf Schnee hat der Sommerreifen: Er kommt erst 34 Meter nach dem Winterreifen zum Stehen – bei einer Bremsung aus 50 km/h. Die Ganzjahresreifen liegen – mit sieben Metern Unterschied – eher auf Winterreifenniveau.

Ganzjahresreifen im Ganzjahrescheck

Das Niveau der Testkandidaten hat sich gegenüber früheren ADAC Tests verbessert – auch weil die Allwetterreifen in der kleineren Dimension für Kleinwagen besser funktionieren.

Zielgruppe sind vor allem die Fahrer von kleineren Autos

Dass der Markt inzwischen für Ganzjahresreifen bereit ist, beweisen auch die Ergebnisse des repräsentativen ADAC Reifenmonitors 2018. Immerhin 47 Prozent der deutschen Autofahrer könnten sich vorstellen, das nächste Mal solche Pneus zu kaufen. Besonders wechselwillig sind die Besitzer von Kleinst- und Kleinwagen: Hier liegt der Anteil sogar bei 58 bzw. 55 Prozent. Klar: Klein- oder Zweitwagen werden vor allem in der Stadt bewegt, selten für Fahrten in den Ski- oder Sommerurlaub genutzt, und bei den wenigen Kilometern ist der periodische Reifenwechsel samt Lagerung besonders lästig.

Deshalb hat der ADAC in seinem Ganzjahresreifentest diesmal auch eine Kleinwagengröße gewählt. Die Dimension 175/65 R14 passt – je nach M0torisierung und Ausstattung – auf zahlreiche Fahrzeugmodelle: Citroën C2, Ford Fiesta, Hyundai i10, Mazda 2, Mitsubishi Colt, Renault Twingo, die baugleichen Seat Mii, Škoda Citigo, VW up! oder Toyota Yaris.

Ingenieure zu unterschiedlichen Jahreszeiten quer durch Europa: für die Schneeversuche nach Ivalo in Finnland, für die Nässe-, Eis- und Verbrauchstests ins Contidrom bei Hannover und für die Trocken- sowie Verschleißversuche zu Bridgestone in der Nähe von Rom.

Das Ergebnis

Immerhin vier der neun getesteten Reifen schneiden befriedigend ab, sind also für den Ganzjahreseinsatz durchaus empfehlenswert, während die restlichen „ausreichenden“ Pneus zumindest mit Einschränkungen akzeptabel sind. Das beweist: Im Vergleich zu den doch recht ernüchternden ADAC Tests der Dimensionen für die untere Mittelklasse eignen sich Ganzjahresreifen für Kleinwagen eindeutig besser. Die zweite Erkenntnis: Die Ganzjahresreifen der neuesten Generation setzen tendenziell wieder auf modifizierte Wintermischungen. Denn der Vergleich mit den katastrophalen Bremsleistungen des Sommerreifens auf Schnee (siehe Grafik S. 12) zeigt, dass ihre halbwegs passablen Leistungen auf Schnee sonst gar nicht möglich wären. Allerdings muss man damit auch die konstruktiv bedingte Schwäche der Winterreifen auf trockener Fahrbahn in Kauf nehmen: In puncto kurze Bremswege und knackiges Fahrverhalten hat der Sommerreifen klar die Nase vorn.

Die Zielkonflikte zu lösen gelingt im Test dem Nexen N blue 4 Season am besten. Bei guten Leistungen auf Nässe und Eis fährt der koreanische Reifen auf trockener und schneebedeckter Fahrbahn zwar etwas schwächer, aber noch akzeptabel. Der neue AllSeasonContact von Conti löst dagegen den klassischen Zielkonflikt Nässe vs. Schnee sehr gut – allerdings auf Kosten der Leistungen auf trockener Fahrbahn. In dieser Disziplin zeigen auch die nächstplatzierten Goodyear Vector 4Seasons Gen-2 und Nokian Wheatherproof Schwächen. 

Mit Ausnahme des Firestone (mit der schlechtesten Trocken- und Nassperformance) fahren alle Reifen dahinter auf Schnee nur unterdurchschnittlich – in dieser Kleinwagengröße auch der verschleißarme CrossClimate von Michelin als teuerstes Modell im Test. Spezialisten schneiden in ihrer jeweiligen Saison besser ab.

Fazit

Das Beispiel Schnee zeigt: Wer sich für Ganzjahresreifen entscheiden will, sollte das individuelle Einsatzprofil des Fahrzeugs sowie die Stärken und Schwächen der Reifen genau kennen. Für Autofahrer, die in einer gemäßigten Klimaregion leben und keinen Skiurlaub oder Sommerferien im Süden planen, für Zweit- und Kleinwagenbesitzer, die mit wenig Kilometern vor allem innerstädtisch unterwegs sind, aber auch für alle, die Kosten für die Umrüstung sparen müssen und das Auto bei üblem Winterwetter stehen lassen können, sind zum Beispiel die vier „befriedigenden“ Ganzjahresreifen in diesem Test eine Alternative. Man muss nur wissen: Die Bestleistungen der jeweiligen Spezialisten erreichen sie nicht. Aber auf den Stoff, der bei Minusgraden genauso wie am Strand funktioniert, warten wir ja auch noch.

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